Lieber Vati

geboren wirst Du 1935 in Rodde. Du bist das jüngste von 5 Kindern. Deine Kindheit und Jugend verbringst Du ebenfalls in Rodde und erlebst dort die Kriegs- und Nachkriegszeit. Vom Kriegsdienst bleibst Du verschont. Deine Brüder hatten nicht so viel Glück, einer kehrt nicht mehr zurück.

Ihr habt Ziegen. Später nennst Du sie Kühe der Beamten. Ihr Kinder müßt sie hüten, wenn sie am Wegesrand grasen. Das machst Du eher widerwillig. Später hilfst Du den Bauern zur Erntezeit. Damals steht der Roggen noch mannshoch.

Du besuchst das Gymnasium Dionysianum in Rheine, lernst Griechisch und Latein. Dort machst Du 1956 auch Dein Abitur. Anschließend arbeitest Du bei der Fa. Theo Lietmeyer in Rheine und der Fa. Niemeyer Söhne in Riesenbeck. 1957 bringt Dich das Studium nach Aachen. An der RWTH studierst Du bis 1964 Elektrotechnik. Dort trittst Du auch der Studentenverbindung Saxo-Thuringia bei. Und in Aachen lernst Du Mutti kennen. Oma Amern glaubt bis heute, Ihr hättet Euch in der Kirche kennengelernt. Jetzt kannst Du ihr erzählen, daß Euer Kennenlernen ein klein wenig anders verlief.

Als frisch gebackener Diplom-Ingenieur fängst Du 1965 beim TÜV in Köln an und wirst Sachverständiger für Gerätesicherheit. Du arbeitest da bis zu Deinem Vorruhestand 1997. Seit 1998 bist Du Rentner.

Als Du beim TÜV anfängst, ziehst Du nach Köln. 1967 geht es weiter nach Dansweiler, in eine Mietswohnung in der Alten Kirchstraße. Hier überraschst Du die Nachbarschaft, indem Du die Fenster putzt.

1967 heiraten Mutti und Du.

Mutti ist Lehrerin und möchte in Deine Nähe versetzt werden. Allerdings möchte ihr Rektor sie nicht gehen lassen. Da fährst Du ins Ministerium und klärst die Sache. Mutti fängt in der Schule in Widdersdorf an und zieht zu Dir nach Dansweiler.

Ihr haltet die Reihenfolge ein. Mehr als 9 Monate – aber nicht viel mehr als 9 Monate – nach der Hochzeit, werde ich geboren. Ein knappes Jahr später Michael. Du wechselst uns schon mal die Windeln und bist auch damit Deiner Zeit voraus.

1971/72 baut ihr ein Haus in Dansweiler, das wir 1972 beziehen. In diesem Haus wohnst Du den Rest Deines Lebens. Das Haus konstruierst Du – um den Wohnzimmerschrank herum. Der große Schrank ist schon da, der muß ins Haus passen. Auch die Elektrik und den Verteilerschrank baust Du selber. Überhaupt, es dauert viele, viele Jahre, bis ich einen fremden Handwerker im Haus sehe. Du machst alles selber. Stromanschlüsse, tapezieren, streichen, Rohrbrüche reparieren, Wände und Decken mit Holz verkleiden, Platten legen, mauern, fliesen, verfugen.

Später hilfst Du Michael beim Renovieren seines Hauses. Und mir baust Du – maßgeschneidert – einen Küchenschrank mit hochwertigen Auszügen und edlen Beschlägen. Wir lernen viel Handwerkliches von Dir – obwohl Du Ingenieur bist. Und Du hast für so ziemlich alles das passende Werkzeug. Gutes Werkzeug. Auf Deine Werkzeugsammlung greifen wir noch heute zurück.

Auch sonst bist Du immer da, wenn wir Dich brauchen.

Das Haus ist gebaut, den Aushub verteilst Du mit der Schubkarre auf dem Grundstück. Das Fundament für den Gartenzaun gießt Du von Hand. Nur der Garten sieht etwas karg aus. Irgendwann sind dann 20 oder 30 kleine Nadelbäume da, die Du rundherum einpflanzt. Es kommt zufällig ein Händler vorbei, der die Nadelbäume auf dem LKW hat. Da kaufst Du sie ihm alle ab. Zumindest ist das die Version, die Du Mutti erzählst.

Einige Jahre fahren wir in den Osterferien nach Texel. Und angeln Schollen. Mutti brät unseren Fang, auch wenn sie keinen Fisch mag.

Dann machst Du 1976 den Jagdschein. Wir Söhne fahren oft sonntags mit zur Kiesgrube, um beim Tontauben Schießen zuzusehen. Und im Keller dürfen auch wir mal mit dem Luftgewehr schießen. Jagd, das ist für Dich mehr, als einen grünen Lodenmantel zu tragen und ab und zu im Wald ein Stück Wild zu erlegen. Du bildest im Laufe der Zeit unsere 3 Hunde Kessy, Sultan und Ingo zu Jagdhunden aus. Den Pansen für die Hunde holst Du im Schlachthof und frierst ihn ein. Du bist Mitglied im Jagdhundeverein und viele Jahre Richter bei Hundeprüfungen. Zur Jagd gehören für Dich auch Jagdhörner. Also lernst Du Jagdhorn blasen. Munition kann man fertig kaufen oder selber herstellen. Du lädst natürlich selber. Einige Jahre bist Du Jagdaufseher im heimischen Revier. Wenn ein Hochsitz benötigt wird, konstruierst Du ihn und schreinerst zuhause die einzelnen Bauteile zurecht. Im Wald müssen dann nur noch Boden, Dach und 4 Wände zusammengeschraubt werden, und fertig ist der neue Hochsitz.

Wir helfen gelegentlich dabei. Einmal arbeiten wir an einem Sonntag (oder war es ein Feiertag?) im Wald. Ein Spaziergänger fühlt sich gestört und ruft die Polizei. Die Polizei kommt vorbei. Weil sie muß, nicht weil sie will. Ihr einigt Euch darauf, daß es (erst) Ärger gibt, wenn sie ein zweites Mal kommen muß. Aber wir sind schon fast fertig mit der Arbeit. Sie muß kein zweites Mal kommen (falls doch, sind wir schon weg).

Du genießt das Ansitzen im Wald, auch wenn Du nichts schießt. Du genießt die Ruhe und die Natur. Aber natürlich wird auch gejagt. Im Herbst die Treibjagd, mit Mittagspause bei Lagerfeuer im Wald, abends dann Kesseltreiben im Haus Waldblick (Pelzer) in Königsdorf. Wir sind als Treiber dabei. Und ich kann meine Bomberjacke auf orange tragen, ohne komisch angesehen zu werden. Was Du jagst, zerlegst Du selber. Fachmännisch. Mutti friert es portionsgerecht ein. Für das selbst geschossene Wild gibt es im Freundes- und Bekanntenkreis viele willige Abnehmer.

Das Wild muß etwas abhängen, bevor es verarbeitete wird. Da kommt es schon mal vor, daß ich mit dem Kopf gegen ein an der Decke hängendes Kaninchen stoße, wenn ich abends das Mofa in die Garage fahre. Später steht für das erlegte Wild ein Kühlhaus im Keller. Das nutzen wir Söhne gerne, um die Getränkevorräte für Partys zu kühlen.

Die Jagd ist nicht Deine einzige Freizeitbeschäftigung. Jahrzente lang spielen Mutti und Du Skat mit Ruth und Günther. Eure Skatkasse verpraßt Ihr vier bei kurzen Reisen. Viele Jahre sind Mutti und Du im gemischten Kegelclub. Und Ihr trefft Euch regelmäßig mit Fetten und Allrath. Ihr feiert die Feste, wie sie fallen. Gerne auch bis 3 Uhr nachts. Allerdings werdet Ihr mit den Jahren etwas ruhiger und die Feiern enden früher.

Dich reizt es nicht, die Karriereleiter zu erklimmen. Du arbeitest gut und gründlich und machst Überstunden, wenn erforderlich. Aber die läßt Du Dir nicht ausbezahlen, sondern in Freizeit abgelten. Freizeit erhältst Du zu 100 %, ohne Abzüge. Die Freizeit ist Dir wichtiger als das Geld. Das, was heute als Work-Life-Balance propagiert wird, praktizierst Du schon vor 40 Jahren.

Gleichwohl führen Dich Deine Dienstreisen auch ins Ausland. Nach Frankreich, Italien, Slowenien, Indonesien. Manchmal liegen die Dienstreisen in den Schulferien, so daß die Familie mitreisen kann. In Frankreich werden wir zu einem Geschäftsessen mit eingeladen. Das Restaurant ist kein richtiges Restaurant. Es ist ein Privathaus. Der Opa sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, eine Katze auf seinem Schoß. Seine Frau kocht für ausgewählte Gäste, die im Eßzimmer speisen. Es kommt ein Gang nach dem anderen. Immer weiter. Immer mehr. Kessy liegt derweil im Auto und bellt jeden an, der dem Wagen zu nahe kommt.

1981/82 gehst Du für 1 Jahr nach New York. Du hilfst dem TÜV, in Übersee Fuß zu fassen. Heute ist der TÜV weltweit tätig.

Du stehst Neuem aufgeschlossen gegenüber. Früh haben wir einen Computer, einen Commodere. Mich interessieren daran vor allem die Spielmöglichkeiten, Michael und Dich (auch) das Programmieren. Später hast Du einen iPod für Deine Musik. Und mit über 80 Jahren legst Du Dir noch ein Smartphone zu und beschäftigst Dich mit Apps.

Im Ruhestand hast Du das Gefühl, daß Deine Finger ein wenig steif werden. Um sie beweglich zu halten, lernst Du Gitarre spielen. Und da Du schon Gitarre spielst, möchtest Du auch Gitarrenbau lernen. Was Du in Lehrgängen und im Selbststudium machst. Nicht viel später kommt der Geigenbau dazu. Als ich im Allgäu bin, hole ich das von Dir bestellte Geigenholz in Mittenwald ab. Das Werkzeug für den Instrumentenbau legst Du Dir natürlich auch zu, inklusive der Hobel, die so klein sind, als gehörten sie zu einer Puppenstube. Du hobelst und schleifst auf den Zehntel Millimeter genau.

Als Mutti noch arbeitet, betätigst Du Dich als Hausmann. Du gehst einkaufen und kochst für Euch beide. Auch sonst seid Ihr ein gutes Team.

Und als Rentner renovierst Du noch das Wohnzimmer. Die Decke wird neu verkleidet. Deine Rückenschmerzen führst Du auf die Über-Kopf-Arbeit zurück. Dann erfährst Du, daß die Schmerzen nicht vom Renovieren kommen. Die Diagnose lautet anders und ist ernst. Du hoffst, noch ein paar schöne Jahre zu haben. Die Uniklinik findet eine Therapie, auf die Du gut ansprichst. Es werden noch 11 Jahre.

Seit 2008 begleitet Dich die Krankheit. Aber sie prägt Dein Leben nicht.

Du bist noch viel unterwegs, gehst jeden Tag spazieren, oft mit Mutti, aber auch alleine. Zunehmend brauchst Du Pausen, und mußt liegen. Dann liest Du viel, hörst Musik und schaust fern. Aber es bleibt dabei: Du gehst jeden Tag spazieren. Die Restaurantbesuche laßt Ihr Euch nicht nehmen, im Paradiso, bei Bodo, in der Pizzeria, in der Schellenburg oder auf dem Düsseldorfer Fernsehturm. Du kannst genießen, dafür muß es nicht teuer sein. Auch die Besuche von und bei Deinem Enkel Hendrik genießt Du. Und Du machst mit Mutti noch viele Urlaubsreisen. An die Nordsee. An die Ostsee. Und einige Flußkreuzfahrten.

Es gibt ein paar Krankenhausaufenthalte und Operationen, aber Du rappelst Dich immer wieder auf. Mit eisernem Willen und Selbstdisziplin. Du bist ein sehr genügsamer Patient. Überhaupt: Du bist ruhig, bodenständig, besonnen. Und manchmal ein Dickkopf. Ein Westfale halt.

Mit über 80 ziehst Du Dir bei einem Sturz Deinen ersten Knochenbruch zu. Und das gleich richtig. Oberarm/Schulter und Hüfte. Aufgrund Deines Alters werden die Verletzungen in 2 Operationen versorgt. Eine lange Operation wollen die Ärzte Dir nicht zumuten. Die zweite Operation findet früher statt als erwartet. Deine Konstitution überrascht die Ärzte. Hier machen sich Deine täglichen Spaziergänge bezahlt. Und auch nach diesen Brüchen rappelst Du Dich wieder auf. Du nimmst Deine täglichen Spaziergänge wieder auf, jetzt meist mit Rollator, der Dir nach dem Sturz Sicherheit gibt. Schon bald schaffst Du es wieder zu Fuß bis Brauweiler, auf einen Kaffee ins Eiscafe oder auf einen Espresso in die Kanzlei. Und auch das Reisen geben Mutti und Du nicht auf.

Im August macht Ihr 12 Tage Urlaub in Domburg. Nach einer Fischsuppe hast Du Magenprobleme. Du verzichtest auf den Hummer, den Du in Domburg noch essen willst. Wieder zu Hause, erfährst Du, daß es leider keine Magenverstimmung ist. Im September wirst Du operiert. Am Tag vor der OP machen wir bei Sonnenschein noch einen Spaziergang im Königsdorfer Wald, in Deinem alten Jagdrevier. Du gehst mit Rollator und brauchst zwischendurch Pausen, aber du gehst selber.

Deinen 84. Geburtstag verbringst Du im Krankenhaus. Die OP verläuft gut. Du kannst wieder lächeln. Und Späße machen mit  Ärzten und Pflegern. Trotzdem sagst Du noch im Krankenhaus, daß Du zu Hause ein Pflegebett im Wohnzimmer möchtest. Mutti organisiert das alles. 4 Wochen nach der OP bist Du wieder zu Hause. Auch hier lächelst Du und machst mal ein Späßchen. An einem sonnigen Samstag schaffst Du es noch einmal bis nach Brauweiler ins Eiscafe, wenn auch im Rollstuhl. Dort trinkst Du einen Kaffee und ißt eine halbe Waffel mit Kirschen. Und auf dem Rückweg treffen wir noch eine Kegelschwester von Dir.

In der Folgezeit ißt Du immer weniger. Dir schmeckt nichts mehr. Du wirst immer schwächer. Jeden Tag ein wenig mehr. Freunde, Schwägerinnen, Nichten und Neffen kommen Dich ein letztes Mal besuchen. Deine letzten Wochen verbringst Du zu Hause. In den letzten Tagen ist rund um die Uhr einer von uns bei Dir. Und die letzten Stunden verbringen wir alle gemeinsam mit Dir.

Du gehst an einem Sonntag Morgen.

Es wird ein milder, sonniger Sonntag. Der Herbst zeigt sich von seiner schönsten Seite und schenkt Dir bestes Reisewetter.

Wir werden uns wiedersehen. Irgendwann.

 

 

In Memoriam
Aloys Schepers
(22. September 1935 – 24. November 2019)